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Zeiten ändern sich: August Sander lichtete einen original Straßenphotographen ab, ein Berufsbild, das es um 1930 noch gab. Thoma
Fotos: August Sander/ Thomas Bac
Zeiten ändern sich: August Sander lichtete einen original Straßenphotographen ab, ein Berufsbild, das es um 1930 noch gab. Thoma
Fotos: August Sander/ Thomas Bac
Anrührend ernsthaft: August Sanders Porträt eines Konditors (1928).
Foto: August Sander

Die ganze Gesellschaft in präzisen Porträts

Bietigheim: Lässt sich eine ganze Gesellschaft durch Porträts einzelner ihrer Mitglieder treffend und tiefschürfend abbilden? Dieser Frage spürt die Ausstellung „Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts – August Sander und seine Nachfolge“ in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen nach.

In unseren Zeiten der digitalen Schnapp- und Schnellschüsse wird der künstlerische Aspekt der Fotografie gern vergessen, zumal der der durchdachten Bildkomposition, wie er in der Frühzeit des Lichtbildes noch nötig und üblich war (schon weil eine Photographie, wie das Wort früher noch geschrieben wurde, selten und teuer war).
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte und ein gutes noch viel mehr. Aber reicht das, um ein facettenreiches Gesellschaftsabbild allein im Wege genau gearbeiteter Einzelporträts zu erzeugen? August Sander (1876-1964), einer der bedeutendsten Wegbereiter der modernen Fotografie, war offensichtlich überzeugt davon. Denn mit dem monumentalen Projekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ machte sich Sander an eben dieses Werk. Die frühesten Aufnahmen datieren aus den 1910er Jahren, die spätesten vom Anfang der 1950er Jahre. Sander ging dabei geradezu wissenschaftlich strukturiert zu Werke, ordnete seine Aufnahmen in sieben Gruppen – „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“ und „Die letzten Menschen“ –, die er wiederum in Mappen unterteilte.
Mehr als 600 Porträts machte, komponierte Sander im Laufe der Zeit. Um das Typische der unterschiedlichen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten zu erfassen, legte der Fotokünstler großen Wert auf eine charakteristische Pose. Das Individuum wurde in Bezug zum gesellschaftlich Typischen inszeniert. Formale Strenge prägt Sanders Bilder. Die Menschen sind oft frontal ausgerichtet und ins Verhältnis zum Umraum gesetzt. Kleidung, Requisiten und das Lebensumfeld des Abgelichteten sollten über das einzelne Porträt hinaus wirken und verbinden. Vergleichend nebeneinander gestellt, sollten die Einzelaufnahmen der Gesellschaft insgesamt ein repräsentatives Gesicht geben und so ein „physiognomisches Zeitbild“ schaffen. In der Bietigheimer Ausstellung wird eine repräsentative, auch die Struktur des Sander’schen Werkes widerspiegelnde Auswahl von rund 60 Fotografien mit dem Schwerpunkt auf den 1920er bis 1930er Jahren gezeigt.
Ist Sanders Idee vom Gesellschaftsporträt als Summe von etlichen Einzelporträts nun vermessen oder war einst die Gesellschaft tatsächlich einfacher, übersichtlicher, leichter darstellbar? Diese Fragen werden womöglich beantwortet beim Blick auf das Werk jener Fotokünstler, die die Nachfolge Sanders antraten. Die Ausstellung greift ausgewählte künstlerische Positionen auf, die in direkter Bezugnahme zu Sander stehen und auch den konzeptionellen Aspekt seines Werkes „Menschen des 20. Jahrhunderts“ übernahmen.
Stefan Moses (* 1928) aus München bat Menschen vor das traditionelle Tuch des Wanderfotografen und schuf 1989/90 mit seinen „Ostdeutschen Porträts“ das Bild einer Gesellschaft mitten in einem wahrlich großen Umbruch. Die beiden Dresdner Fotografen Thomas Bachler (* 1961) und Karen Weinert (* 1976) reagieren mit ihrer in bewusster Anlehnung so benannten Serie „Menschen des 21. Jahrhunderts“ auf den massiven Wandel Arbeitswelt, den sich ein August Sander so sicherlich nicht vorgestellt hat, – auf originelle Art, denn ihre Personen inszenieren sie in fiktiven Berufen, die gar nicht so abwegig scheinen. Den Abrissökonomen, die Massenpsychologin oder die Citytherapeutin gibt es nicht. Noch nicht?
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt der Leipziger Frank Höhle (* 1975), der auf die üblicherweise eingesetzten Attribute bewusst verzichtet und damit die Charakterisierung der Personen geradezu verweigert. In seinen 48 Porträts erhielten die Personen alle die gleiche Unisex-Kleidung. Keine individuellen oder soziologisch relevanten Attribute geben weitere Auskunft über die Abgebildeten. Geht Individualität trotz Uniformität?
Die Porträts der aus Indonesien stammenden Amsterdamerin Fiona Tan (* 1966) spannen den weitesten Bogen der Schau. Bei ihr lernen die Porträtbilder das Laufen, wenn auch nur minimal. In ihrer Video-Installation Countenance, die 2002 auf der documenta XI zu sehen war, wirken ihre Porträts wie aneinander gereihte Fotos, sind tatsächlich aber jeweils 20-sekündige Filmsequenzen. Die Personen blinzeln, atmen und bewegen sich bloß fast nicht. Angesichts des Raumbedarfs kann diese Installation in Bietigheims Galerie nicht gezeigt werden. Elemente davon sind aber zu sehen ist die „Study for Provenance“, in der Tan den Bogen zur niederländischen Porträtmalerei des 17. Jahrhunderts zurückschlägt und doch bei bewegten Bildern bleibt.
Insgesamt wirft die Ausstellung „Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts. August Sander und seine Nachfolge“ Fragen auf, die das Genre des fotografischen Porträts – der Dokumentation, Inszenierung, Selbstdarstellung, der Attribute und des Raumbezugs – betreffen, und beleuchtet die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des künstlerischen Entwurfs eines (sich verändernden) Gesellschafts- und Zeitbildes.

 

Information
„Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts – August Sander und seine Nachfolge“ Eröffnung am Freitag, 19. Oktober,
um 19 Uhr. Anschließend zu sehen vom
20. Oktober bis 6. Januar in der
Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen,
Hauptstraße 60 - 64.

Öffnungszeiten:
Dienstag, Mittwoch und Freitag
14 bis 18 Uhr,
Donnerstag 14 bis 20 Uhr,
Samstag, Sonntag und Feiertag
11 bis 18 Uhr.